Militärforschung
  Ukraine-Krieg 2.0 - 7. Update
 

Ukraine-Krieg 2.0 – Update 7 vom 4. März (D+8) -
Angriff auf Atomkraftwerk Saporischschja

Gerhard Piper

4. März 2022, 11.15 Uhr

In der Nacht vom 3. auf den 4. März haben russische Kampfverbände die sechs Atomreaktoren in Saprischschja beschossen und dabei einen Brand ausgelöst.

In der Nacht vom 3. auf den 4. März hat die russische Artillerie den Nuklearkomplex von Saporischschja (Zaporozhskaya atomnaya elektrostantsiya) beschossen. Die Anlage besteht aus sechs Leichtwasser-Reaktoren vom Typ WWER 1000/320 (= Wodo-wodjanoi energetitscheski reaktor) á 1000 Megawatt und ist damit die größte Nuklearanlage in Europa. Ein Anbau, der zur Ausbildung der Bedienungsmannschaft und als Labor genutzt wird, geriet durch den Beschuss einer Elektroanlage in Brand. Zunächst hinderten die Soldaten die Feuerwehr daran, den Brand zu löschen. Erst nach Stunden durften die Brandmeister an den Brandherd. Mittlerweile ist der Brand gelöscht. Die Reaktorgebäude waren anscheinend nicht betroffen, Radioaktivität gelangte – soweit bekannt – nicht in die Umwelt. Von dem Angriff selbst gibt es Aufnahmen einer Überwachungskamera.  (https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-russische-truppen-auf-dem-gelaende-des-atomkraftwerks-saporischschja-a-5ef7ab62-7e3c-4cfd-a18d-10cf48d3570b)

Nuklearanlage Saporischschja

Der Komplex ist benannt nach Saporischschja (ca. 750.000 Einwohnern, darunter 760 Deutsche), der Verwaltungsmetropole der Region. Der Nuklearkomplex hingegen liegt siebzig Kilometer weiter südlich bei Enerhogar (ca. 55.000 Einwohner). Eigentümer und Betreiber der Anlage ist das Staatsunternehmen „Energoatom“. Die Anlage ist existentiell für die Stromversorgung der gesamten Ukraine.

Am 1. April 1980 begann man mit dem Bau der Anlage. Der Reaktor „Saporischschja-1“ nahm am 25. Dezember 1985 seinen Betrieb auf. Der letzte Reaktor „Saporischschja-6“ ging am 16. September 1996 ans Netz. Eigentlich sollten die Reaktoren „3“, „4“ und „5“ bereits zwischen 2017 und 2019 abgeschaltet werden, sie befinden sich jedoch weiter am Netz.

Die „Welt“ berichtete über den Status der Reaktorblöcke am Tag des Beschusses:

„Am Standort Saporischschja liefen zum Zeitpunkt des Beschusses nur drei der sechs Blöcke im Normalbetrieb, die Blöcke 5 und 6 sind seit dem 25. Februar in der sogenannten Kaltreserve, Block 1 war wegen Reparaturarbeiten vom Netz genommen worden.“ (https://www.welt.de/wirtschaft/article237297903/Ukraine-Atomkraftwerke-in-Schussweite-Was-wir-ueber-das-AKW-Saporischschja-wissen.html)

Konstruiert wurden die Reaktoren vom Experimental-Konstruktionsbüro „Opytno-konstruktorskoye byuro Gidropress“ (OKB Gidropress) in Podolsk (Ulitza Ordschonikidse 21). Das Büro wurde von1962 bis 1992 von Wassili Stekolnikow geleitet, unter seiner Leitung wurden die Reaktoren in Saporischschja konstruiert. Später leiteten Walentin Grigorjewitsch Fjodorow (1992-1998) und danach Juri Griogorjewitsche Dragunow das Ingenieurbüro.

Der Reaktorkern hat eine Ladung von 66 Tonnen Uran, das zu ungefähr 4,26 Prozent angereichert ist. Der Reaktorkern besteht aus ca. 151 bis 163 sechseckigen Brennstoffkassetten. Jede „Kassetta“ besteht aus 312 bis 331 Brennelementen. Die Kassetten befinden sich in einem Reaktordruckbehälter der bei einer Höhe von 3,5 m einen Durchmesser von 3.1 m hat. Da der Reaktorkern unter einem hohen Druck steht, ist es in einem Reaktordruckbehälter aus Spezialstahl untergebracht, um die Sicherheit der Anlage sicher zu stellen.

Die Funktionsweise dieser Druckwasserreaktoren sei kurz beschrieben: Im Reaktorkern werden die heißen Brennelemente vom Wasser umspült, das sich dadurch erhitzt und radioaktiv kontaminiert wird. Durch extrem hohen Druck (60 atü) wird verhindert, dass das ca. 300 Grad heiße Wasser verdampft. Vielmehr wird es mittels Pumpen durch das Röhrensystem flüssig zum Reaktorkern zurückgeleitet. Unterwegs muss es einen Wärmetauscher passieren, wo es seine Wärmeenergie an das Wasser eines Sekundärkreislaufes abgibt. Der Wärmeaustauch erfolgt in einem Dampferzeuger vom Typ PGW-1000M. Der hierin erzeugte Wasserdampf treibt dann zwei Dampfturbinen an, die mit jeweils einem Stromerzeugungsgenerator gekoppelt ist. Das erhitze Wasser des Sekundärkreislaufes wird dem benachbarten Fluss entnommen, es wird schließlich durch einen Kondensator und zum Fluss zurückgeleitet, der dadurch leicht erwärmt wird. Dieser Aufbau erlaubt, dass hoch radioaktives Wasser ausschließlich im Reaktordruckbehälter verbleibt, das Wasser des Sekundärkreislaufes wird nur geringfügig kontaminiert, dadurch bleibt die Werkshalle und die installierte Technik vor einer Verstrahlung weitgehend verschont.

Um die Funktionsweise des Reaktorkerns zu steuern, stehen 109 Kassetten mit Regelstäben bereit. Werden sie zwischen die Brennstoffkassetten eingefahren, kommt es zu einem Stillstand der Kernprozesse und der Reaktor fährt runter, das AKW ist dann – aus Sicherheitsgründen – abgeschaltet. Als Absorbermaterial zum Neutroneneinfang wird u. a. 1-prozentige Borsäure eingesetzt.

Beim Reaktortyp WWER 1000 gibt es – aus Sicherheitsgründen - insgesamt 4 Kühlmittelkreisläufe mit Kühlmittelpumpen vom Typ GCNA-1391. Die ganze Anlage wird aus einer verbunkerten Warte heraus gesteuert.

Die ganze Technik (Reaktordruckbehälter, die Röhren des Primär- und des Sekundarkreislaufes, die ganzen Pumpen, Generatoren und Kondensatoren) sind in einer Werkshalle untergebracht, die wie ein Bunker aus Stahlbetonwänden besteht, die einen Beschuss oder einem Flugzeugabsturz standhalten sollen. Dies ist das so genannte Containment. Aber es gewährleistet gemäß seiner Auslegung, also Dicke und Bauweise, nur einen begrenzten Schutz.

Über die Anlage berichtete „Wikipedia“:

„Das Kernkraftwerk hat insgesamt sechs Blöcke vom sowjetischen Typ WWER-1000/320. Diese haben eine elektrische Nettoleistung von jeweils 950 Megawatt und eine thermische Leistung von je 3.200 Megawatt. Die thermische Gesamtleistung der Anlage von fast 20 Gigawatt erfordert enorme Mengen Kühlwasser, die dem Fluss Dnepr (andere Bezeichnung: Dnipro, G. P.), welcher an dieser Stelle extra verbreitert wurde, entnommen werden. Die Leichtwasserreaktoren haben eine elektrische Gesamtleistung von 5.700 Megawatt netto (5.700 MW netto) und bilden somit zusammengerechnet die leistungsstärkste Kernkraftwerksanlage Europas. (https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Saporischschja)

In Deutschland gab es ebenfalls ein Atomkraftwerkskomplex vom WWER-Typ. Es handelte sich um die drei kleineren Blöcke WWER -440/230 des AKWs Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern), das von 1973 bis 1990 in Betrieb war.

Beschuss

Verantwortlich für den Beschuss ist vermutlich die 20. Selbstständige Motorisierte Schützendivision (20. Selbst. MotSchDiv), die seit dem 27. Februar auf die Anlage zumarschiert. Diese Division wurde erst seit 2021 auf Basis der 20. Garde MotSchützen Brigade aufgebaut. Die Truppe ist in Wolgograd (vormals Stalingrad) stationiert. Sie gliedert sich in folgende Verbände:

 -242. Garde MotSchützen Regiment in Kamiyshin
- 255. MotSchützen Regiment in Volgograd
- 944. Garde Artillerieregiment
 358. Garde Flugabwehrregiment
- 428. Selbstständiges Panzerbataillon bei Volgograd mit Kampfpanzer T-90M
- 487. Selbstständiges Panzerabwehrbataillon

Der Beschuss erfolgte durch Panzer und Artilleriegeschütze, möglicherweise wurden auch Luftangriffe durch Kampfunterstützungsflugzeuge durchgeführt. Insgesamt sollen rund 100 Militärfahrzeuge auf das Werksgelände vorgedrungen sein.

Schon vor Kriegsbeginn musste der russische Militärjournalist Alexei Leonkov am 16. Februar herhalten, um im Rahmen der russischen Propaganda anzukündigen, dass die Anlage zum Ziel von Kampfhandlungen werden könnte. Der Journalist behauptete damals, die USA wollten das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja (engl.: Zaporizhzhia) in die Luft sprengen, um durch diese Provokation die europäischen Staaten radioaktiv zu kontaminieren:

“Vital objects may be under attack. Now I am referring to the Zaporizhzhya NPP, which now for the first time in its history has all six power units operating simultaneously. In the meantime, back in January, there was some kind of emergency stop associated with malfunctions in the turbine. Where it leads? It should be understood that ZNPP provides 50% of nuclear generation on the territory of Ukraine. It is also the only nuclear power plant for which all technical documentation has been carefully studied by American experts. So if the US decides on a provocation, they will most likely strike here. And the problem is not even the threat of an energy collapse, but the risk of a repeat of the Chernobyl disaster. Such games can be very dangerous.” (https://en.news-front.info/2022/02/16/military-expert-warns-threat-of-crushing-us-strike-on-the-zaporozhye-nuclear-power-plant/)

Störfallgeschichte

Über die Störfallgeschichte der Anlage berichtete „Wikipedia“:

„Aus dem Kernkraftwerk wurden wiederholt Störfälle gemeldet. Im April 1993 wurden einige Teile der Anlage durch Wasser, welches aus einem Primärkreislauf ausgetreten war, stark radioaktiv kontaminiert. In den Jahren 1994 bis 1997 wurden wegen finanzieller Engpässe nur zwei Millionen Dollar investiert.

Das Forschungszentrum Dresden-Rossendorf arbeitete an der Verbesserung der Sicherheitsstandards der Überwachungssysteme der Kraftwerke in der Ukraine. 1992 starteten die ersten Untersuchungen des Forschungszentrums zur Verbesserung der Sicherheit. 1995 ging das erste Überwachungssystem im 5. Block in den Probebetrieb. Heute sind alle sechs Reaktoren damit ausgestattet.

Am 28. November 2014 kam es zu einem Kurzschluss in der Umspannanlage, also außerhalb des Reaktorbereichs, woraufhin Block 3 vorübergehend heruntergefahren wurde, und es zu Stromknappheit in der Region kam. Die IAEO bewertete die Abschaltung mit Stufe 0 der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse („Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung“). Trotz dieser Bewertung erregte diese Störung aufgrund der Nähe zum ukrainischen Krisenherd und der Tatsache, dass sich Аварія (Awarija), das ukrainische Wort für Störung, auch mit Unfall übersetzen lässt, eine gewisse mediale Aufmerksamkeit.

Infolge der Sprengung mehrerer Hochspannungsmasten im Oblast Cherson am 21. November 2015 kam es zu einem Lastabwurf von 500 MW, der durch die staatliche Betreiberfirma Ukrenergo als sehr gefährlich eingestuft wurde.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Saporischschja)

Der Beschuss des Atomkraftwerkskomplexes war nicht der erste Militärzwischenfall an der Anlage: Am 6. Mai 2004 geriet das Kernkraftwerk in die Schlagzeilen, als in einem nur 40 km entfernt befindlichen Waffendepot der Ukrainischen Armee, in dem Altbestände der Roten Armee gelagert wurden, ein Feuer ausbrach. Dieses war mehrere Tage außer Kontrolle, wobei Artilleriegeschosse und Panzerabwehrraketen unkontrolliert in alle Himmelsrichtungen flogen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Enerhodar)

Der Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, bezeichnete die aktuelle Lage als „extrem angespannt“. „Wir empfehlen, zu Hause zu bleiben.“ Auf den Straßen sei es aber ruhig, es seien keine Ortsfremden da. Damit meinte er offenbar russische Truppen. „In der Nacht blieb Enerhodar während des Beschusses wegen Schäden an einer Leitung ohne Heizung.“ (https://www.tagesspiegel.de/politik/beschuss-von-europas-groesstem-atomkraftwerk-russische-armee-besetzt-saporischschja/28129772.html)

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte vor einem so genannten SUPER-GAU:

„Russian army is firing from all sides upon Zaporizhzhia NPP, the largest nuclear power plant in Europe. Fire has already broke out. If it blows up, it will be 10 times larger than Chornobyl! Russians must IMMEDIATELY cease the fire, allow firefighters, establish a security zone!“

Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte die Russen: „Der Terroristen-Staat verlegt sich jetzt auf Nuklear-Terror.“

Der britische Premier Boris Johnson klagte, die „rücksichtslosen Aktionen“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin „könnten nun die Sicherheit ganz Europas direkt gefährden“. Er forderte eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates. Der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko forderte ein Eingreifen der NATO: „Deshalb fordern wir nicht nur eine professionelle Einschätzung der Geschehnisse, sondern ein echtes Eingreifen mit den härtesten Maßnahmen, auch durch die Nato und die Länder, die Atomwaffen besitzen.“ (https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-russische-truppen-auf-dem-gelaende-des-atomkraftwerks-saporischschja-a-5ef7ab62-7e3c-4cfd-a18d-10cf48d3570b)