Militärforschung
  75 Jahre NATO
 

NATO: Die absurde Gründung eines Militärbündnisses

29. März 2024

Gerhard Piper

Am 4. April 2024 jährt sich die Gründung der NATO zum 75. Mal. Ein Grund auf die merkwürdigen Ursprünge und Anfangsjahre der Allianz  zurückzublicken.

Die Gründung der NATO

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen mehrere europäische Staaten überein, dass eine Verteidigung gegen einen entschlossenen Gegner nur mehr kollektiv möglich wäre. So schlossen fünf Staaten (United Kingdom, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich) am 17. März 1948 den „Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung“ (Kurzname: Brüsseler Pakt). Der Vertrag war die Basis zur Bildung der „Western Union Defense Organisation“ (WUDO, dt.: Westunion - WU), aus der 1954 die Westeuropäische Union (WEU) hervorging.

Als Militärbündnis waren alle WUDO-Mitgliedsstaaten verpflichtet, im Fall eines Angriffs auf ein Mitgliedsland automatisch militärischen Beistand zu leisten. So bestimmte Artikel IV des Brüsseler Vertrages:

„Artikel IV: Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“

Zur Verteidigung der fünf Mitgliedsstaaten war die Westunion somit völlig hinreichend. Allerdings wollte der U.S.-Kongress der WU und ihrem Zwang zum militärischen Beistand nicht zustimmen. Man hielt dies für eine Bevormundung und Beschneidung der eigenen „war powers“. Die Isolationisten waren ohnehin gegen jedwede Vertragsbindung.

Um aber weiterhin im Konzert der Europäischen Mächte mitzumischen, wurde von Seiten der USA die Gründung einer North Atlantic Treaty Organisation (NATO) favorisiert, die der U.S.-Regierung die Prädominanz in der (west-)europäischen Sicherheitspolitik garantierte, ohne die USA zu sehr zu verpflichten.

Am 4. April 1949 gründeten die Vertreter von zwölf Staaten die NATO: Zu den fünf Mitgliedern der WU gesellten sich Kanada, USA, Island, Norwegen, Dänemark, Portugal und Italien. Der Ort der konstituierenden Versammlung war ein Tanzsaal an der Constitution Avenue in Washington D. C. (USA).

Allerdings war die militärpolitischen Bindungen zwischen den Mitgliedsstaaten zunächst nur sehr vage, da die NATO zwar den „Bündnisfall“ (casus foederis), aber keine automatische Beistandspflicht kennt. So heißt es im „Washingtoner Vertrag“ lediglich:

„Artikel 4: Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.

Artikel 5: Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“

So bleibt unklar, in welchem Umfang die NATO-Staaten „Beistand“ leisten wollten und wollen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn eines ihrer Mitglieder selbst als Angreifer oder mutmaßlicher Angreifer agiert, sich selbst aber als Angegriffener darzustellen versucht.

Die defizitäre Beistandsverpflichtung des NATO-Vertrages führte in den nachfolgenden Jahrzehnten dazu, dass der Kampfwille der USA immer wieder in Frage gestellt wurde. Stattdessen befürchteten die Westeuropäer, die U.S.-Regierung würde ihre Verpflichtungen nicht einhalten und – um das Überleben der eigenen Nation sicher zu stellen - einen (Atom-)Krieg auf Europa begrenzen wollen. Ab Herbst 1960 kamen beim deutschen Offizierskorps Zweifel an der gültigen Strategie auf. Entsprechende Bedenken äußerte zunächst Brigadegeneral Cord Dietrich Bertram von Hobe, Stababteilungsleiter für strategische Fragen im Führungsstab, später auch General Hans Speidel. Zwanzig Jahre später, Anfang der achtziger Jahre, trieb diese Befürchtung tausende Zivilisten der „Friedensbewegung“ auf die Straßen Europas.

Bisher musste noch kein Mitgliedsstaat des Militärbündnisses dessen Beistandserklärung – rebus sic stantibus - auf ihren Wahrheitsgehalt testen. Der Vertrag suggeriert lediglich, dass für alle NATO-Mitgliedsstaaten das Prinzip „gleicher Sicherheit“ gelte, weil im Falle eines Angriffs auf Einen, alle zum militärischen Beistand verpflichtet wären und somit ebenfalls zum Kriegsgebiet würden. Dies ist aber nicht der Fall, da der Vertrag nichts über Art und Ausmaß des „Beistandes“ aussagt. Im Extremfall hat ein NATO-Mitgliedsstaat seine Beistandsverpflichtungen bereits erfüllt, wenn er eine diplomatische Protestnote an den Aggressor richtet. Dies ist keineswegs so absurd, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, da aufgrund der Ausdehnung des NATO-Gebietes ein großer Teil der Mitgliedsstaaten keine praktischen, militärischen Möglichkeiten hätte, selbst operativ einzugreifen. Dies gilt sowohl für einen Angriff in Europa-Mitte (sprich Deutschland), als auch an der Nord- bzw. Südflanke. Lediglich die USA wären durch ihre umfangreiche Streitkräftedislozierung in jedem Konfliktfall präsent gewesen. In der Praxis führte dies dazu, dass das NATO-Gebiet in mehrere Zonen unterschiedlicher, genauer gesagt minderer Sicherheit zerfiel, was bisher keine praktischen Auswirkungen hatte, da ein Angriff auf das NATO-Gebiet – wie bereits gesagt - an keiner Stelle erfolgte.

So standen zur „Verteidigung“ Norwegens, dem einzigen europäischen Gründungsmitglied der NATO mit einer gemeinsamen Landgrenze zur Sowjetunion, keine alliierten Truppen präsent zur Verfügung. Dies entsprach auch durchaus dem Willen der Regierung in Oslo. Erst in den siebziger Jahren wurden militärische Depots angelegt, auf die U.S.-Verstärkungen im Kriegsfall zurückgreifen konnten.

Nach Darstellung des ersten, britischen NATO-Generalsekretärs General a. D. Hastings Lionel Ismay, der am 13. März 1952 sein Amt antrat, hatte die NATO gleichzeitig drei politische Funktionen: Sie sicherte den USA ihren Einfluss in Europa, verweigerte der Sowjetunion eine Einflussnahme und hielt den alten Kriegsgegner Deutschland nieder. Die entsprechende Formel lautete: „keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down.“ Später kam noch ein weiterer Faktor hinzu: Eine Aufnahme der BRD in die NATO verhinderte einen Beitritt derselben zum Warschauer Pakt. Ansonsten galt es, „Westdeutschland Stärke und Vorherrschaft auf dem Kontinent einzudämmen“, wie es in den alten, geheimen Dokumenten des U.S. State Department hieß.

Bei Gründung der NATO gehörte die Bundesrepublik noch nicht zu den ersten Mitgliedern der Allianz. Somit blieb die damalige „Trizone“ (6. März 1948 bis 7. September 1949) einem möglichen, sowjetischen Angriff schutzlos ausgeliefert. Auf der anderen Seite war aber Westdeutschland das einzige Land innerhalb der NATO, das – schon in Friedenszeiten – einen nennenswerten Bestand an alliierten Truppen beherbergte, die wie in einer „alliierten Schichttorte“ in der BRD disloziert waren. So meinte der französische Staatspräsident General a. D. Charles André Joseph Marie de Gaulle 1960, nur die „battle in Germany“ würde integriert geführt werden, danach stünden die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten United Kingdom, Frankreich, etc. wieder für sich selbst und - mehr oder weniger – alleine dar. So betrachtet wurde der Washingtoner Vertrag von Staaten zur Verteidigung eines anderen Landes abgeschlossen, das damals noch gar nicht Mitglied der Allianz war, sondern vielmehr noch immer als „Feindstaat“ galt, gegen den die NATO zum Zeitpunkt ihrer Gründung wenigstens z. T. gerichtet blieb.

Verbrämt wurden diese sicherheitspolitischen Beweggründe durch die postulierte Verteidigung der Werte „Freiheit“ und „Demokratie“. Dabei waren es ausgerechnet die USA, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die faschistischen Nazis vor Strafverfolgung schützten. Und statt „Demokratie“ zu exportieren, ließ die U.S.-Regierung in zahlreichen Staaten demokratische, liberale Präsidenten stürzen und durch ebenso autoritäre wie korrupte Marionettenregime ersetzen: Carlos Santillo Armas (Guatemala), Fulgencio Batista y Zaldívar (Kuba), Jean-Baptiste Ngô Đình Diệm (Südvietnam), Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu wa Zabanga (Belgisch Kongo/Zaire), Mohammad Reza Pahlavi (Iran), Georgios Papadopoulos (Griechenland), Augusto José Ramón Pinochet Ugarte (Chile), Syng-man Rhee (Südkorea), António de Oliveira Salazar (Portugal), etc..

Bei aller Kritik an der NATO, trotz der amerikanischen Prädominanz als „primus inter pares“ war sie im Gegensatz zum Warschauer Pakt doch relativ demokratisch organisiert, bei den Sowjets blieben die osteuropäischen Satellitenstaaten reine Erfüllungsgehilfen des sowjetischen Generalstabs in Moskau. Ende der achtziger Jahre waren gerademal achtzehn hohe Offiziere der Nationalen Volksarmee der DDR an der Erstellung der WP-Kriegspläne beteiligt; immerhin 32 hohe Offiziere der NVA wurden darüber unterrichtet, welche konkreten Gefechtsaufgaben sie im Kriegsfall zu erledigen hatten, der Rest wäre erst am ersten Kriegstag durch versiegelte Briefe unterrichtet worden.

Die NATO begann als „Papiertiger“

Als die NATO gegründet wurde, war sie ein reiner „Papiertiger“, d. h., die NATO bestand aus nichts weiter als dem Gründungsvertrag, der in den Safes des U.S.-State Department hinterlegt wurde. Es gab keinen Oberbefehlshaber, kein Hauptquartier, keine Truppen, keine Operationspläne. So bestand die NATO zunächst nur als juristisches Konstrukt, existierte aber in der Praxis nicht wirklich, um erst im Kriegsfall – wie der Phoenix aus der Asche - aus der Taufe gehoben zu werden. Erst im Laufe der folgenden Jahre wurde der Vertrag durch den Aufbau einer Militärorganisation und eines militärpolitischen Apparates nach und nach unterfüttert. Zu den ersten Organisationselementen gehörten 1949 fünf regionale Planungsgruppen: Kanada-USA, Nordatlantik, Nordeuropa, Westeuropa und Südeuropa. Die USA waren der einzige NATO-Staat, der an allen Planungsgruppen teilnahm. Eine dominierende Rolle spielte damals U.S.-General Omar Nelson Bradley, ab 1950 erster Vorsitzende des NATO-Militärausschusses.

Erst am 1. Januar 1951 wurde das Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) gegründet. Zunächst bestand das NATO-Hauptquartier als „SHAPE Study Group“ nur aus ein paar Zimmern und Konferenzräume im Hotel Astoria in Paris (Avenue des Champs Élysées), weil dieses über eine gute Kommunikationsanlage verfügte und den Amerikanern nach der Befreiung von Paris im August 1944 als deren Hauptquartier gedient hatte. Am 2. April oder 23. Juli 1951 bezog die NATO ihr neues Hauptquartier in Rocquencourt bei Louveciennes-Villevert (Frankreich). Zunächst bestand der Personalbestand aus 183 Offizieren aus neun Staaten, darunter 100 Amerikaner, 27 Franzosen und 26 Briten. Die übrigen 30 Mann verteilten sich auf die neun anderen Gründungsmitglieder.

Erster NATO-Oberbefehlshaber (Supreme Allied Commander Europe - SACEUR) wurde am 2. April 1951 U.S.-General Dwight David Eisenhower.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begannen alle Kriegsparteien damit, ihre Streitkräfte schnell zu reduzieren, um die Soldaten wieder einer zivilen Beschäftigung zuzuführen. Während die USA einen Großteil ihrer Truppen aus Europa bzw. Asien zurückzog, war dies bei den Sowjets nicht der Fall. Bereits ein Jahr nach Gründung der NATO kamen Zweifel auf, dass die NATO angesichts der konventionellen Übermacht der Sowjets überhaupt einen Verteidigungskrieg beginnen würde. Vielmehr könnten die Westeuropäer einfach ihre Kapitulation erklären. Um dieses konstruktive Defizit auszugleichen beschloss der Nordatlantikrat auf Ebene der NATO-Außenminister auf seiner Konferenz in Lissabon vom 20. bis 25. Februar 1952 - anlässlich des Koreakrieges - neue Streitkräfteziele. Gemäß dieser „Lisbon Force Goals“ wollte man bis 1954 52 einsatzbereite Heeresdivisionen aufstellen, die im Kriegsfall innerhalb von 90 Tagen durch 90 Reservedivisionen ergänzt werden sollten. Diese Rüstungsziele wurden zunächst verschoben, erneuert, dann aufgegeben und somit nie erreicht. Anfang 1977 schrieb das U.S.-Magazin „Newsweek“: „Die Verteidigung von Europa ist ein Thema, an das manche Führer der Allianz am liebsten nicht erinnert werden möchten.“ (1)

Bei Gründung war die NATO ein ausschließlich konventionell bewaffnetes Militärbündnis, da nur die USA über Atomwaffen verfügten, die nur im Sinne der nationalen Sicherheitspolitik eingesetzt werden sollten. So waren der NATO in den Anfangsjahren keine Atomwaffen unterstellt bzw. assigniert. Im Laufe der Jahrzehnte wandelte sich die Allianz zu einem Militärbündnis, das in ihrer Kriegsplanung auf den Einsatz von Atomwaffen angewiesen war.

Erste Schritte zur Atomisierung der „Verteidigung“ Westeuropas gingen von der U.S.-Regierung aus. Von Juni bis zum 19. Juli 1947 wurden zehn Bomber vom Typ B-29 Superfortress der „340th Bombardment Squadron; Very Heavy“ der „97th Bombardment Group“ des Strategic Air Command (SAC) von der Smoky Hill Airfield bei Salina (Kansas) nach Giebelstadt verlegt. Die Maschinen blieben hier für einen dreißig-tägigen Trainingseinsatz. Die Bomber waren vermutlich die ersten nuklearfähigen Waffensysteme, die zumindest vorübergehend in Deutschland bzw. der BRD stationiert wurden, allerdings führten die Maschinen damals noch keine Atombomben mit. Von November bis Dezember 1947 wurden erneut Bomber B-29 Superfortress der 28th und der 307th nach Deutschland verlegt. Diesmal wurden die Maschinen auf dem Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck stationiert, der bessere Unterkunftsbaracken bot als Giebelstadt. Im April 1948 besuchten B-29 Superfortress der „301st Bombardment Group“ für ein paar Tage Fürstenfeldbruck. Im Juni 1948 folgte die „353rd Bombardment Squadron“, die erneut vom Smoky Hill Airfield vorübergehend nach Fürstenfeldbruck verlegte. Diese Maßnahme war eine U.S.-Reaktion auf den Beginn der Berlin-Krise, die am 24. Juni 1948 mit der sowjetischen Blockade der Transitwege begann. Am 2. Juli folgten B-29 der „301st Bombardment Group“, die auch nach Fürstenfeldbruck verlegten. Allerdings führten auch diese Bomber noch keine Atomwaffen mit.

Die ersten beiden, landgestützten Atomgeschütze vom Typ M65 Atomic Annie (280 mm) wurden im Oktober 1953 in Bremerhaven (BRD) entladen. Sie wurden beim „868th Field Artillery Bataillon“ in Mainz eingeführt und der Öffentlichkeit am 23. Oktober vorgestellt. Im Juni 1954 folgten mindestens drei weitere Lafetten. Schließlich rüstete man sechs Artilleriebataillone der „42nd Field Artillery Group“ (HQ Baumholder) der 7th Army mit der Großkanone aus. Ihre Atomgranaten W9 hatten eine Sprengkraft von 15 KT. Hinzu kamen die ersten Flugkörper, MGM-5 Corporal Type I, der „259th FldArtBn (MSL)“, in Mainz-Gonsenheim. Ihr Gefechtskopf W7 hatte eine Sprengkraft von 20 KT. Am 20. Januar 1960 wurden die ersten beiden Jagdbomber F-84F Thunderstreak bei der „7331st Technical Training Wing“ auf der Kaufbeuren AB stationiert. Weitere Maschinen folgten und am 24. September 1956 wurden die ersten Thunderstreak von der Bundesluftwaffe übernommen und schließlich der 1. Staffel der „Luftwaffenschule 30“ (WaSLw 30) zugeordnet. Die F-84F waren u.a. mit der Atombombe Mark VII Thor ausgerüstet.

Die sogenannte „Verteidigung“

Zu den fundamentalen Strukturfehlern der Allianz gehörte der geographische Tatbestand, dass sich die NATO über zwei Kontinente erstreckt(e), die durch den Atlantik weit voneinander getrennt sind (Entfernung New York - Lissabon: 5416 km Luftlinie), so dass sich eine „gemeinsame Verteidigung“ - im engeren Sinne des Wortes - von vornherein ausschloss.

Bei Gründung der NATO gingen die Militärs in ihren Planspielen noch davon aus, dass im Kriegsfall ein konventioneller Angriff der überlegenen sowjetischen Streitkräfte nicht aufzuhalten sei. So verabschiedete die Allianz am 19. Oktober 1949 die Ursprungsfassung ihres ersten strategischen Dokumentes: „Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic Area“ (MC 3). Diese Strategie lief darauf hinaus, die „Verteidigung“ erst am Rhein aufzunehmen, sich langsam zurückzuziehen und den gegnerischen Angriff erst an den Pyrenäen zum Stillstand zu bringen.

Die Verständigung auf eine Art Militärstrategie führte zunächst noch nicht zu einer gemeinsamen Operationsplanung für den Kriegsfall. Vielmehr betrieben die nationalen Streitkräfte ihre nationalen Operationsplanungen. Nur die Militärs mehrerer NATO-Staaten (USA, Kanada, Vereinigtes Königreich und Frankreich) betrieben schon damals eine nationale Operationsplanung, die über den Horizont des eigenen Staatsterritoriums hinausreichte:

USA: Der „short-range defense plan“ der Amerikaner sah bei Gründung der NATO im Jahr 1949 noch keine Verteidigung des NATO-Gebietes vor. Stattdessen wollten sich die U.S.-Truppen in einer präsenten Kampfstärke von mehreren hunderttausend Mann im Kriegsfall innerhalb weniger Tage schrittweise nach Spanien, das damals noch kein Mitglied der NATO war, zurückziehen. Die „Verteidigung“ des Bündnisgebietes blieb reduziert auf die Verteidigung der Halbinsel Gibraltar (6,5 qkm mit damals 22.000 Einwohnern), die als britische Kronkolonie zum NATO-Gebiet zählte. Dazu verfügte der alte „Affenfelsen“ ohnehin über umfangreiche Bunkeranlagen. Soviel NATO für die Verteidigung von so wenig Europa! Dabei war der Operationsplan nicht nur ein verdeckter Plan zur Evakuierung der U.S.-Truppen aus Europa, vielmehr ging das U.S.-Militär damals von einer Kriegsdauer bis zu zwei Jahren aus.

UK: Bei Kriegsende im Mai 1945 hatten die Briten rund 75.000 Soldaten in der BRD disloziert. Die britischen Heeresverbände in der BRD und ihre Unterstützungs- und Reserveverbände im Vereinigten Königreich wurden im Juli 1945 zur „British Army of the Rhine“ (BAOR). Zunächst handelte es sich dabei mehr um ein administratives Kommando zur Verwaltung des deutschen Besatzungsgebietes, erst Ende der vierziger Jahre / Anfang der fünfziger Jahre wurde daraus ein Kampfverband. Das Hauptquartier der BAOR befand sich seit April 1948 in Bad Oeynhausen, danach in Bünde und ab 1954 in Mönchengladbach-Rheindahlen, wo mehrere Stäbe im Joint Headquarters untergebracht waren. Auch die britischen Streitkräfte verfügten über einen nationalen Operationsplan;

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die britische Militärpolitik auf drei Ziele: Verteidigung des britischen Heimatlandes, die Selbst-Behauptung im Nahen Osten und den Schutz der internationalen Schifffahrtslinien. Die „Plans for Emergency Measures and Mobilisation“ datierten vom 1. Mai 1948. Damals entstand (auch) ein Operationsplan mit dem Codenamen ABIGAIL. Anscheinend sah dieser Plan vor, die niederländischen Streitkräfte bei Bedarf mit zwei niederländischen Regimentern zu unterstützen. Einen Operationsplan zur Verteidigung ihrer deutschen Besatzungszone existierte nicht, hier war lediglich die Evakuierung der britischen Truppen aus Deutschland geplant: Operation CONGREVE. Dabei handelte es sich um nichts anderes als einen Fluchtplan für ein zweites „Dünkirchen“:

„The poor correlation of forces in Germany led to a strategic acceptance that the defense of Germany was essentially a lost cause and that no attempt would be made to reinforce BAOR should a war break out. Instead the military priority was the defense of the UK base and the empire, in particular the Middle East, which would receive all of the available reinforcements. Faced with a Soviet attack, BAOR would withdraw northwestward to the United Kingdom. It was decided that reinforcement of BAOR would not be considered until there was a reasonable chance of conducting a successful defense on the west bank of the Rhine River. In 1948 it was assessed that this would not be possible before 1953. (…)

Despite the poor strategic prognosis for BAOR, contingency plans were drawn up for a withdrawal to a line on the west bank of the Rhine. These plans were collectively known as CONGREVE and assumed that the Soviet Union was capable of mounting a surprise attack against BAOR from forces based in Soviet-occupied Germany. Planners estimated that the Soviet forces would outnumber allied forces by about three to one. This numerical advantage would be enhanced by the fact that Soviet forces were perceived to be more homogeneous, better trained, and on the whole better equipped than the available allied forces. (…)

Unfortunately the internal security disposition of many of the brigades militated against the success of this westward move. Planners predicted that if the Soviets mounted a surprise attack, as much as 35 percent of BAOR´s forces would be isolated by the speed of the Soviet advance and would be unable to reach the Rhine. The outlook for the forces in Hamburg and Schleswig-Holstein was particularly gloomy as geography dictated that in all but the most favorable circumstances they would be cut off. Only the 2nd Infantry Division, which was based close to the Rhine around Düsseldorf, was expected to be able to take up its war positions with any degree of ease. For the remaining forces the timings necessary for successful British Withdrawal, compared against the expected speed of Soviet advance, were challenging. Soviet troops potentially could reach Bremen within nine hours, and British troops from Hamburg could reach it in seven hours. Similarly, a withdrawal from Hamburg to Deventer would take British forces twenty-six hours. (…)

To have some prospect of a viable withdrawal, three armored car regiments (roughly of battalion size) and 7th Armored Brigade provided a covering force that was expected to delay the Soviet advance by four to five days, using the Weser River as its main defensive line. The difficulty for the planners was that although the covering force had to buy time to allow BAOR´s withdrawal to the Rhine, it was hardly sufficient for the task and would inevitably suffer heavy casualties in the process. Such losses would make a defense of the Rhine unviable. (…)

In the unlikely event of a successful withdrawal to the Rhine, BAOR planned to defend a line from the coast, along the line of the Ijssel-Rhine to a point opposite Düsseldorf. Planners anticipated that a British brigade would probably have to cover the line of the Ijssel until Dutch forces were available. BAOR lacked antiaircraft artillery, and the threat of a Soviet airborne assault to seize the Rhine crossings was considered high. Any such assault would impede the withdrawal and reduce the chances of a successful defense.“ (2)

Um die Mitgliedschaft der BRD in der NATO militärpolitisch abzusichern, verstärkten die Briten ihre Streitkräfte in der BRD in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre und entwickelten neue Operationspläne.

F: Aus den französischen Besatzungstruppen in der BRD, die „Troupes d´ occupation en Allemagne“ (TOA), gingen 1955 die französischen Streitkräfte in Deutschland (Forces Francaises en Allemagne - FFA), hervor. Ihr zentraler Verband war die 1. Armee (1re armée) (HQ Strasbourg). Sie sollte erst dann eingesetzt werden, wenn die Linie Rotterdam-Dortmund-München vom Feind überschritten werden würde. Die Hauptverteidigungslinie (Main Line of Resistance – MLR) sollte auf der Linie Antwerpen-Ardennen verlaufen. (3) Als Hauptaufgabe der Streitkräfte bestimmte das Comité de Défense Nationale am 30. November 1948, den Rhein als „frontiére naturelle“ zu halten. Somit dienten die in der BRD dislozierten Truppen eher der Verteidigung Frankreichs als Westdeutschlands. Ab 1966 beteiligte sich die französische Regierung nicht mehr an den NATO-Operationsplanungen (Ausnahme: LIVE OAK-Planungen zur „Verteidigung“ Westberlins).

Erst allmählich entwickelte die NATO eine gemeinsame Operationsplanung. Vertreter der zwölf NATO-Staaten trafen sich am 1. Dezember 1949 in Paris, um einen ersten gemeinsamen Defensivplan anzunehmen. (4) Dazu verabschiedete das Military Council – nach einem US-Entwurf der Joint Chiefs of Staff (JCS) - am 6. Dezember 1949 das Dokument DC 6/1, das am 6. Januar 1950 auch vom Nordatlantikrat angenommen wurde:

„The concept paper laid down certain basic principles: mutual cooperation in defense against armed attack; contributions from each nation, in accordance with its situation, responsibilities and resources; military buildup without endangering economic recovery; coordinated military force in accordance with a common strategic plan; assumption by each nation of the tasks for which it was best suited; and a successful defense at the least cost in manpower and resources. These principles gave rise to two objectives: to coordinate the military and economic strength of the alliance as a deterrent to attack; and to develop plans to be applicable in the event of war. To achieve these objectives, the Joint Chiefs of Staff proposed certain basic undertakings: assure the capability for strategic atomic bombing (essentially a US responsibility, with other nations assisting “as practicable”); arrest and counter enemy attacks as soon as practicable, relying at first primarily on European ground forces, tactical air forces, and air defense; secure and control essential sea and air lines of communication, relying primarily on US and UK forces; secure essential ports, air bases, and main base areas; and mobilize according to war plans, This concept paper had been kept purposely vague because of the “political and security implications” attendant upon its consideration by the Defense Committee and the North Atlantic Council and its use to meet provisions of military aid legislation.“ (5)

Im Rahmen seines Aufbauprogramms erließ das Defense Committee der NATO am 1. April 1950 den „Medium Term Defense Plan“ (DC 13) (65 Seiten). Als Streitkräfteziele sollten bis zum 1. Juli 1954 90 Divisionen einschließlich Reserveverbänden, 1.000 Kriegsschiffe und 8.000 Flugzeuge vorgehalten werden. Zu dem Plan gehörte ein Anhang „A“ mit dem Titel „Requirements to the 1954 Defense Plan“ gehörte.

„After the outbreak of hostilities, operations will fall into four main phases. These phases which will not be distinct and may vary in different areas, are as follows:
PHASE 1 - D-Day to the stabilization of initial Soviet offensive, to include the initiation of the Allied air offensive.       
PHASE 2 - Stabilization of initial Soviet offensive to allied initiation of major offensive operations.         
PHASE 3 - Allied initiation of major offensive operations until Soviet capitulation is obtained.
PHASE 4 - Final Achievement of Allied War Objectives. (…)

Specific Tasks which have been Allocated to Regions are as follows:       
a. Western European Region
(1) Hold the enemy as far to the east in Germany as possible.      
(2) Cooperate with the Southern European-Western Mediterranean Regional Planning Group in the organization of the Western Mediterranean”s lines of communication between the Continent and North Africa in support of land operations planned by the Group.            
b. Southern European-Western Mediterranean Region      
(1) Hold the enemy as far to the east and north as possible.         
(2) Organize the Western Mediterranean lines of communications:          
(a) Between North Africa and France in support of Western European operations, taking into account that plans for this purpose have already been prepared by Western Union.
(b) In support of the campaign in Italy.         
c. Northern European Region           
(1) Hold the enemy outside a defensible area.        
(2) Plan operations in the Baltic.      
d. Canada-United Stated Region     
(1) Plan for the expeditious reinforcement of regions which may be attacked.     
(2) Support and prepare for, as appropriate, the execution of strategic air offensive operations assisted by other nations as practicable.       
e. North Atlantic Ocean Region        
(1) Control trans-Atlantic lines of communication by the necessary counter-offensive and defensive measures.      
(2) Prepare plans for the defense of Continental Portugal and the Archipelagos of Madeira and the Azores, and also for the defense of Greenland, Iceland, Spitzbergen (to the extent practicable under treaty limitations) the Faeroes, and such other areas as may be decided within the North Atlantic Ocean Area. (…)

Development of New Weapons        
Atomic Bombs. It is estimated that an appreciable atomic bomb stockpile will be accumulated over the next few years.          
Biological Warfare (BW). It is estimated that the Soviets are now capable of producing BW agents in sufficient quantities for covert use and possibly open warfare. It is considered that methods of maximum production of BW agents can be developed by the Soviet Union with the means for their dissemination within two or three years sufficient for the support of large-scale overt biological warfare.          
Chemical Warfare (CW). The Soviet Union is believed to be capable of large-scale production and employment of the well-known chemical agents. Suitable means of dissemination could readily be developed.

Guided Missiles. The demands of other high priority projects may limit the availability of such items as gyros, servos, electronic equipment and technical personnel to be allotted in the immediate future to the development and production of guided missiles. (…)

In the event of their decision, to wage war in 1954, the Soviet plan would probably include the following operations:     
a. (1) Subversive activity and sabotage against Allied interests in all parts of the world.
(2) A sea and air offensive against Allied sea communications.     
(3) A campaign against Western Europe, which will remain their primary land objective.
(4) An aerial bombardment against the British Isles.           
(5) Campaigns against the Near and Middle East.  
(6) A campaign against Yugoslavia and Italy.          
(7) Attacks against key targets in Canada, the United States and Alaska.
8) Campaigns with limited objectives in the Far East.         
b. A campaign against Scandinavia.
c. If possible, a campaign to overrun the Iberian Peninsula and secure the Straits of Gibraltar.  
d. Air attacks against Allied bases. (…)

Against North Atlantic Treaty Organization Areas    
Western European Region   
a. Belgium, Luxembourg, Denmark, Western Germany, Netherlands, France.     
(1) Soviet operations in Western Europe would involve nearly simultaneous attacks against Western Germany, Luxembourg, Belgium, the Netherlands, France, and Denmark, and air action against the United Kingdom and its sea approaches. It is considered therefore that only one course is open to the Soviet Union with regard to the direction of her attack; to advance to the Rhine between the coast and the Swiss frontier and after forcing a crossing to continue to the Channel, the Atlantic coast and the Pyrenees. This would be combined with an invasion of Denmark.
(2) The main thrust of a Soviet attack on Western Europe would in all probability develop through the North German Plain, secure the Channel port areas, and thence proceed down the western coast of France to the Pyrenees. Secondary attacks would probably develop across southern Germany and thence through the Lorraine and Belfort Gaps into central and southern France. A simultaneous thrust would be launched into Denmark.    
b. United Kingdom. In the initial stages of hostilities an air offensive would be directed against the United Kingdom. The objectives of such an offensive would be the destruction of British war potential and the denial to the Allies of the British Isles as a base. Atomic bombs, if used, and available in limited quantities only, would be employed primarily against governmental, industrial and population centers and major ports.“ (6)

Zunächst hießen die militärischen Operationspläne „Emergency Defense Plan“ (EDP). Ein erster Plan „EDP 1-52 VIGILANCE“ zu den Verteidigungsprinzipien der NATO wurde am 15. Februar 1952 verabschiedet. Dieser war allerdings kein aktueller Kriegsplan, sondern eher eine vorausschauende Studie für den Fall eines Krieges ab dem 1. Juli 1954. Darin wurde erneut die Ijssel-Rhein-Linie als Hauptverteidigungslinie festgeschrieben.

BRD als NATO-Mitglied

Obwohl es keine NATO-Pläne und Absichten gab, die BRD zu verteidigen, trat die BRD und trat am 9. Mai 1955 der NATO bei, der Illusion verfallen, man könne im Kriegsfall auf das wechselseitige Bestandversprechen rekurrieren. Schließlich machte es keinen Sinn einem Verteidigungsbündnis beizutreten, dass einen nicht verteidigen wollte. Allerdings blieb es zunächst dabei, es gab keine Operationspläne zur Verteidigung des deutschen Territoriums. Vielmehr verpflichtete sich die BRD mit dem Beitritt zur NATO dazu, die alliierten Truppen nach Kräften zu unterstützen. Dazu wurde ein „Aufenthaltsvertrag“ (Protocol on the Termination of the Occupation Regime in Germany) bereits am 23. Oktober 1954 vereinbart.

Zwar hatte sich der Nordatlantikrat im Dezember 1950 erstmals auf die das Verteidigungsprinzip der „forward defense“ verständigt, aber die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland stellte für die BRD und ihre Verbündeten bis zum Ende des „Kalten Krieges“ ein immerwährendes militärisches Problem dar, da die BRD von den Alliierten eigentlich als „indefensible“ eingeschätzt wurde. Dies schien die Bündnispartner aber nur wenig zur beunruhigen. Die führende Generalität der Bundeswehr (Adolf Bruno Heinrich Ernst Heusinger, Hans Speidel, etc.) glaubte in grenzenloser Selbstüberschätzung, sie könnten mit ihren operativen Fähigkeiten die Probleme in den Griff bekommen, was ihnen bis in die achtziger Jahre Kopfschmerzen bereitete, aber gelang. Diese militärpolitische Perspektivlosigkeit führte wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung und der NATO bzw. den Regierungen verschiedener NATO-Staaten.

Die „Verteidigungsplanung“ für die Bundesrepublik basierte ursprünglich auf dem niederländischen Operationsplan „LEEUW“ vom 1. Juli 1949, der 1952 in einer aktualisierten Fassung als „Operatieplan nr.1“ verabschiedet wurde. Dieser sah eine Verteidigung der Niederlande auf Höhe der Flüsse Ijssel und Rhein vor. Es war vorgesehen, 400.000 Niederländer zu evakuieren, um anschließend die Landschaft durch Schiffsblockaden auf den beiden Flüssen zu fluten. Zuvor sollten die in Norddeutschland dislozierten Truppen des damaligen „Eerste Legerkorps“ mit Hauptquartier im niedersächsischen Seedorf den Kampf gegen sowjetische Verbände in der norddeutschen Tiefebene aufnehmen, um das Vordringen des Feindes zu verzögern. Allerdings gingen die NATO-Planer davon aus, dass die Sowjets am fünften oder spätestens am siebten Kriegstag den Rhein erstürmen und nach zwei Wochen den Ärmelkanal erreichen würden. Dies sahen die sowjetischen Planer anders. Im März 1957 behauptete der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Georgi Konstantinowitsch Schukow rotzfrech, die Sowjets könnten schon innerhalb von zwei Tagen den Ärmelkanal erreichen.

Jedenfalls sollte beim NATO-Beitritt der BRD nur das Gebiet westlich des Niederrheins „verteidigt“ werden. Dazu wollten die Briten im Raum Düsseldorf ihre Kräfte konzentrieren, um einen Vorstoß der Sowjets über den Rhein in Richtung Ärmelkanal aufzuhalten. Der Rest der BRD wurde dem Feind überlassen.

Ab 1954/55 war davon die Rede, die Verteidigung der BRD weiter nach Osten zu verlegen. Allerdings fehlten der NATO dazu noch die notwendigen Kapazitäten und diese Planung konnte erst ab Sommer 1958 sukzessive umgesetzt werden. Mit dem Emergency Defense Plan „EDP 2-58“ vom Juli 1958 galt – nach Oberst a. D. Helmut R. Hammerich - offiziell die Ems-Neckar-Linie (emnec):

„Ein erster Durchbruch konnte mit dem EDP 2/58 im Juli 1958 und der Aufgabe der Rhein-Ijssel-Linie zugunsten der Ems-Neckar-Linie als Hauptverteidigungslinie erzielt werden. Ab der Weser-Lech-Linie sollte der Feind verzögert werden. Die Heeresgruppe Mitte (CENTAG) führte ab Sommer 1958 vier nach Osten verschobene Verteidigungslinien ein, die vorderste Linie verlief vom Vogelsberg westlich von Fulda über Schweinfurt und Nürnberg nach Landshut und Rosenheim. Im Süden sollten französische Streitkräfte nun nicht mehr entlang der Iller ersten Feindkontakt haben, sondern bereits am Lech. Im Norden sprach sich der britische NATO-Oberbefehlshaber, General Sir James Cassels, aufgrund fehlender Divisionen weiterhin gegen eine Vorverlegung der Verteidigung ostwärts der Weser aus. Die Heeresgruppe Nord (NORTHAG) hätte mit neun schwachen Divisionen eine Frontbreite von 380 Kilometern, also 42 Kilometer pro Division, abdecken müssen. Laut damaliger Vorschriftenlage sollte eine kampfkräftige Division in günstigem Gelände einen rund 25 km breiten Gefechtsstreifen verteidigen. Trotz dieser Schwierigkeiten legte SACEUR Norstad im April 1962 fest, eine bewegliche Verteidigung unmittelbar am Eisernen Vorhang beginnen zu lassen.“ (7)

Während die U.S.-Army und U.S.-Navy Mitte der fünfziger Jahre eine Kriegsdauer von 48 Monaten favorisierten, sprach sich die U.S.-Air Force für eine kürzere Kriegsdauer von 12 Monaten aus. Am 26. Oktober 1954 konnte der Streit durch einen Kompromiss beigelegt werden; die Teilstreitkräfte einigten sich auf eine Dauer des globalen Krieges von „D plus 30 Monate“. Da die USA den größten Teil des NATO-Militärpotentials stellten, galt diese Frist auch für die Kriegsdauer aller, es sei denn, die Sowjets hätten anderes im Sinn gehabt. Viele Militärverbände hätten das Ende des Krieges ohnehin nicht mehr erlebt, da die Bevorratung mit Lebensmitteln, Treibstoff, Munition und Material damals lediglich für etwa dreißig bis neunzig Tage gereicht hätte.

Spätestens 1963 galt tatsächlich die Weser-Linie. Mit dem „EDP 1-63“ vom September 1963 wurde sie statt der Emnec-Linie erneut eingeführt und blieb bis 1966 Hauptverteidigungslinie. Danach wurde die Verteidigungslinie noch weiter nach Osten an die Elbe bzw. Innerdeutsche Grenze (ca. 1.390 km) vorgeschoben. Somit war erstmals fast das gesamte westdeutsche Staatsgebiet (immerhin 90 Prozent des Territoriums) in die Verteidigungsplanung des Bündnisses einbezogen. (8)

Im Jahr 1969 – vierzehn Jahre nach dem deutschen NATO-Beitritt – wurde die erste Verteidigungslinie noch weiter nach Osten verschoben und somit quasi die gesamte BRD in die Verteidigungsanstrengungen aufgenommen. Sie verlief ab jetzt entlang der Städte Lübeck, Hannover, Kassel, Nürnberg. Regensburg und Passau. Gemäß der Strategie von der „Vorneverteidigung“ sollte die Abwehrschlacht möglichst entlang der innerdeutschen Grenze aufgenommen werden. Nach deutschem Verständnis sollte der Vordere Rand der Verteidigungszone (VRV) möglichst nah bzw. deckungsgleich an bzw. mit der „Inner-German Border“ (IGB) verlaufen.

Allerdings wäre die Bundesrepublik im Rahmen ihrer „Verteidigung“ durch den Einsatz von konventionellen oder atomaren Waffen völlig vernichtet worden, wie sich schon früh bei mehreren Planspielen zeigte: Im Juni 1955 forderte die Stabsrahmenübung CARTE BLANCHE in Deutschland fast 2 Millionen Tote und 3,5 Millionen Verletzte. Am 21. bis 27. März 1957 folgte beim SHAPE in Fontainbleau die Stabsrahmenübung LION NOIR. Bei der Übung kam es bereits am ersten Übungstag zu einem exzessiven Atomwaffeneinsatz mit 108 Sprengkörpern auf rückwärtige Städte (Bremen, Frankfurt, Hamburg, Köln, Stuttgart, etc.). Seit der Übung war der Einsatz taktischer Atomwaffensysteme gegen deutsche Ziele durch die NATO höchst umstritten.

Die Folgen wären für das Bundesgebiet apokalyptisch gewesen, und dies nicht nur wegen der hohen Bevölkerungsdichte von ca. 4.000 Einwohnern pro Quadratkilometer. Statt „Verteidigung von Recht und Freiheit“ hätte sich die bürgerlich-dekadente Bevölkerung Westdeutschlands quasi selbst endgelöst, zumal die detonierenden Atomwaffen vor allem aus „eigener“, alliierter Produktion stammten:

„Allerdings zeigte eine Planübung von CENTAG im Herbst 1960 (FLASH BACK) bei angenommenen 240 eigenen und 170 feindlichen Atomschlägen auf den süddeutschen Raum eine derartige Verformung des Gelände, dass mit dem vorhandenen Kartenmaterial eine Orientierung schlicht nicht mehr möglich und die ausgedehnten Trümmerfelder selbst mit Gefechtsfahrzeugen nicht mehr gangbar waren, eine Rückeroberung aufgegebener Gebiete erschien daher undurchführbar.“ (9)

Ein Oberst der Bundeswehr, der Ende der siebziger Jahre bei der NATO eingesetzt war, erklärte: „Fünfmal habe ich ein Planspiel mitgemacht. Fünfmal wurde die Bundesrepublik verteidigt, und fünfmal wurde sie zerstört.“ (10) Im Allgemeinen ging man davon aus, dass der Warschauer Pakt im Kriegsfall rund 400 Atomwaffen gegen die BRD einsetzen würde, um seinen Vormarsch durch Westdeutschland zu forcieren.

Dabei waren die Folgen eines Atomkrieges von der deutschen Bundesregierung jahrelang verharmlost worden, zum Teil fehlte einfach der Sachverstand in Deutschland. Erst nachdem der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß eine Einsichtnahme der Bundesregierung in die U.S.-Atomkriegsplanung vehement gefordert hatte, erhielt der Brigadegeneral Albert Schnez im Sommer 1960 Einblick in die Zielkartei der USA. Anschließend nannte Schnez die Nuklearkriegsplanung - in einem Brief an Verteidigungsminister Strauß vom 16. August 1960 - „ein Golgatha des deutschen Volkes“:

„Die Durchführung einer derartigen Planung bedeutet jedoch unweigerlich das Ende der Deutschen Nation, vielleicht auch Europas. Der paradoxe Fall würde Wirklichkeit: ein Teil der Armee übersteht und erringt einen fraglichen ‚Sieg‘, die Nation jedoch, die verteidigt werden soll, ist im wesentlichen ausgetilgt (mindestens beim jetzigen Stand unserer Luftschutzvorbereitungen). Das Obsiegen der freien Welt über die Unfreiheit führt also nach diesen Untersuchungen über ein Golgatha des deutschen Volkes.“ (11)

Andererseits blieb unklar, ob die Alliierten überhaupt das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen zur „Verteidigung“ der BRD eingehen würden. So stellte sich letztendlich diesseits und jenseits des Atlantiks die Frage: „Mourir pour Berlin?“ Der klerikale U.S.-Präsidentschaftskandidat James Earl „Jimmy“ Carter Jr. versprach im Wahlkampf 1976 seinen Wählern, er werde den „Einsatz von Atomwaffen als Präsident nur bei Gefährdung der Sicherheit und Existenz der eigenen Nation erlauben“. (12) Dazu befand der frühere Generalinspekteur General a. D. Ulrich de Maiziére: „Es gibt keine unzweifelhafte Gewißheit darüber, ob und welche atomaren Entscheidungen der Präsident in einem Verteidigungsfall tatsächlich treffen wird.“ Nicht zuletzt misstrauten die beiden christdemokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Kurt-Georg Kiesinger den Amerikanern zutiefst. So warf Kiesinger am 4. März 1967 den Amerikanern und Russen eine „atomare Komplizenschaft“ vor. Dabei übersah der Kanzler geflissentlich, dass er und seine Partei ihren Beitrag  zu dieser Komplizenschaft immer geleistet hatten.

Quellen:

(1) Zit. n.: N.N.: Schlachtfeld Deutschland, Spiegel, Hamburg, 11. September 1977, o. S., Online: https://www.spiegel.de/politik/schlachtfeld-deutschland-a-3a3ee265-0002-0001-0000-000040781913

(2) Evans, Robert; The British Army of the Rhine and Defense Plans for Germany, 1945-1955, in: Hoffenaar, Jan / Krüger, Dieter: Blueprints for Battle, Planning for War in Central Europe, 1948-1968, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Potsdam, hier: University Press of Kentucky, Lexington, USA, 2012, S. 205ff

(3) Hoffenaar, Jan: „To defend or not do defend“ – Drawing the line in the Netherlands, in: Mastny, Vojtech / Holtsmark, Sven G. / Wenger, Andreas: War Plans And Alliances in the Cold War – Threat perceptions in the East and West, New York, USA, 2006, S. 271

(4) Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_war_plans_(1945%E2%80%931950

(5) Condit, Kenneth D.: The Joint Chiefs of Staff and National Policy, Vol II 1947-1949, Office of Joint History, Office of the Chairman of the Joint Chiefs of Staff, Washington D. C., USA, 1996, S. 213ff, Online: https://www.jcs.mil/Portals/36/Documents/History/Policy/Policy_V002.pdf

(6) Siehe: https://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a500328d.pdf

(7) Hammerich, Helmut R., Oberstleutnant: Der Fall „MORGENGRUSS“. Die 2. Panzergrenadier-Division und die Abwehr eines überraschenden Feindangriffs westlich der Fulda 1963, in: Nägler, Frank: Die Bundeswehr 1955 bis 2005 – Rückblenden, Einsichten, Perspektiven, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), München, 2007, S. 304

(8) Hoffenaar, Jan: „To defend or not do defend“ – Drawing the line in the Netherlands, in: Mastny, Vojtech / Holtsmark, Sven G. / Wenger, Andreas: War Plans And Alliances in the Cold War – Threat perceptions in the East and West, New York, USA, 2006, S. 279

(9) Bolik, Gerd: NATO-Planungen für die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg, Berlin, 2021, S. 14

(10) Zit. n.: Theiler, Olaf: Die Entfernung der Wirklichkeit von den Strukturen. Die Bedrohungslage der NATO und ihre Wahrnehmung in der westdeutschen Bevölkerung 1985 bis 1990, in: Nägler, Frank: Die Bundeswehr 1955 bis 2005 – Rückblenden, Einsichten, Perspektiven, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), München, 2007, S. 356

(11) Zit. n.: Thoß, Bruno Bündnisintegration und nationale Verteidigungsinteressen. Der Aufbau der Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen nuklearer Abschreckung und konventioneller Verteidigung (1955 bis 1968), in: Nägler, Frank: Die Bundeswehr 1955 bis 2005 – Rückblenden, Einsichten, Perspektiven, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), München, 2007, S. 30

(12) Zit. n.: N.N.: Schlachtfeld Deutschland, Spiegel, Hamburg, 11. September 1977, o. S., Online: https://www.spiegel.de/politik/schlachtfeld-deutschland-a-3a3ee265-0002-0001-0000-000040781913